Sonntag, 19. November 2017

Tür (2)

Ich war nach Hamburg gefahren. Mit ein paar Leuten, fast zufällig.
Ich sitze in Hamburg auf dem Uni Campus. Ich weiß, dass ich mich von den anderen entfernen muss, um Dich zu suchen.
Ich verschwinde unter einem Vorwand. Ich durchkämme den Campus. Ich durchsuche die Gebäude, blicke auf jedes Schild vor jeder Tür. Hier ist die Verwaltung, hier Prof. Soundso.
Ich weiß, du müsstest irgendwo im zweiten Stock sein.
Falsch. Dort ist nur jemand mit deinem Namen. Dein Vater.
Ich suche weiter. Vielleicht im fünften Stock. Ich habe Hunger, Durst. Ich renne durchs Treppenhaus. Überall Türen, nirgendwo dein Name. Ich fahre Aufzug. Türen. Vielleicht verlässt du gerade eben das Gebäude. Leere Gänge. Ich muss dich heute noch finden, morgen ist doch Sonntag und du bist nicht da. Die Sonne geht unter. Ich erschlaffe. Ich habe dich nicht gefunden, aber ich weiß, du bist irgendwo nah. Hoffentlich bist du nicht in einer anderen Stadt auf einer Tagung. Aber nein. Von einer Tagung wüsste ich doch. Ich bin so erschöpft und durstig und hungrig. Zum Glück habe ich noch ein schönes Hotelzimmer in der Uni bekommen. Ich schlafe. Früh morgens will ich am liebsten sofort los, weitersuchen. Aber ich muss dringend duschen, so kann ich dir nicht begegnen. Mein Bruder ist da. Wir finden im Foyer bei einem Stand, der Kleidung verschenkt, ein paar meiner Pullis. Zum Glück, so habe ich etwas Frisches zum Anziehen, wenn ich dich endlich treffe. Es ist mir egal, dass meine anderen Pullis verschenkt werden. Hauptsache, ich finde dich. Ich muss dich suchen. Ich suche dich, die Treppenhäuser, die Türen, die vielen Türen. Ich denke, es muss doch zu schaffen sein, dich zu finden, bevor ich aufwache. Ich will dich so unbedingt finden. Ich bin völlig aufgelöst vor Sehnsucht nach dir. Ich bin extra hier, um dich in kalkuliertem Zufall zu treffen, weil es ja ein Verrat an X wäre, mich mit einem anderen Mann zu verabreden, der mich liebt wie du es behauptest. Doch wo kannst du nur sein, wo. Das ist doch dein Campus, aber wo ist dein Büro. Ich weiß gar nicht, was ich dir sagen will, wenn ich dich finde. Ich will dich einfach finden. Ich will einfach bei dir sein. Ich will lieber mit dir zusammen verzweifelt sein als alleine. Du.
Ich suche dich in anderen Gebäuden, es ist zum Haare raufen. Treppenhäuser, Gänge, Türen.
Der Wecker klingelt.
Ich presse die Augen zusammen und schalte ihn ganz schnell aus. Ich muss dich noch finden, bevor ich aufwache. Ich kann unmöglich mit der Suche in den Tag starten. Ich klappere noch ein paar Türen ab. Aber es ist zu spät. Ich bin aufgewacht. Eine Träne läuft aus meinem linken Auge über die Schläfe in mein Haar. Ich öffne die Augen langsam. Ich greife mir mit beiden Händen fest ins Haar. Scheiße. Ich reibe mein ganzes Gesicht. Fühle nochmal genau, was ich gefühlt habe. Ich frage mich halbwach, ob ich, wenn X nicht wäre, vielleicht wirklich einfach mal nach Hamburg fahren würde. Es ist so weit weg. Ich weiß auch gar nicht wirklich, wer du bist.

Ich erinnere mich nur an den Moment, als inmitten von Menschen, ich dich gefunden hatte. Dich begann zu verstehen und zu mögen. Die Intuition war stark zwischen uns und verwandelte sich in Intimität, als du mir immer öfter impulsiv über den Rücken oder den Oberschenkel gestrichen hast, einfach so, und in deinem Gesicht konnte ich sehen, dass du erst in diesem Augenblick gemerkt hast, was du gerade tatest.
Aber als du inmitten der Abendveranstaltung unter der schweren Tischdecke dein Bein an meines gedrückt hattest, und ich mich den Druck erwidern spürte, da war es kein plötzlicher Impuls mehr. Als du deine Hand so zart auf mein Knie gelegt hast unterm Tisch. Es war kaum ein Anfassen, kaum eine Berührung, es war der zarteste Kontakt, den mein Knie je gehabt hat und mein Herz. Du hast später gesagt, du musstest das einfach tun. Und ich wusste das. Ich musste auch einfach von dir berührt werden. Ich musste.

Und diese Dringlichkeit ist mir noch heute unbegreiflich, überfordert mich jetzt Wochen später immer noch. Wir haben alles mit Worten wieder in Ordnung gebracht. Du bei ihr, ich bei ihm. Alles sicher verpackt. Aber ich weiß, dass du zumindest in dieser Nacht mit mir an einen anderen Ort gegangen wärst. Du hättest mich unter den Arkaden gegen das alte Gemäuer gedrückt und geküsst und allem Ausdruck verliehen, was du fühltest, mit Taten, nicht mit Worten. Vielleicht wäre es dabei geblieben. Ich weiß das alles nicht.

Ich weiß nur, dass ich da nicht einfach so drüber komme.

Ich straffe mich, stehe auf, reiße das Fenster auf. Kalte Novemberluft schlägt mir entgegen, ein unruhiger grauschwarzer Himmel entfärbt den Tag.

Ich hatte dich nicht gesucht und doch gefunden.
Und jetzt? Suche ich dich, obwohl ich es mir verboten hatte, und versuche mit aller Kraft, dich nicht zu finden.

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